Fotografien von Hildegard Ochse
Ein Essay von Benjamin Ochse
Hildegard fotografierte Landschaften, Menschen und Tiere in der Normandie. Dabei griff sie unter anderem auf zwei bekannte Motive der Kunstgeschichte zurück: das Pferd und das Rind. Hildegard hatte sich bereits einige Jahre zuvor in ihrer Serie Haus Marck (1983), im Weserbergland in der Serie »Das Dorf D.« (1984) sowie 1982 auf Sardinien mit den Themen Landschaft, Landleben und der Beziehung zwischen Mensch und Tier fotografisch auseinandergesetzt.
Der Mensch und das Rind bilden seit über 10.000 Jahren eine einmalige Zweckgemeinschaft unter den Säugetieren. Die Kuh scheint auf den ersten Blick Natur zu sein, dabei ist sie doch eine Erfindung des Menschen. Der Auerochse oder Urus (Ur) wurde in der Jungsteinzeit domestiziert und gilt als Vorfahr unserer heutigen westlichen Rinderrasse. Anfangs wurden Rinder als Opfergaben für Götter in Gattern gefangen gehalten, später machte sich der Mensch die Kuh zum Untertanen und die Kuh machte den Menschen abhängig von sich als Milch-, Fleisch- und Zugtier. Mit Christoph Kolumbus gelangte die Kuh 1494 nach Nordamerika und breitete sich von dort über den gesamten Kontinent aus, andere Kolonisten brachten sie nach Australien und weiter bis nach Neuseeland. Für das Rind wurden überall große Waldflächen gerodet und zu Weideland umgewandelt, das Rind formte dabei das Antlitz der Erde.
Rinder stellen heute zahlenmäßig die größte Säugetierart der Weltgeschichte dar. Erstmals tauchte das Ur-Rind oder Wisent in der europäischen Kunstwelt als Wandmalerei in den Höhlen von Altamira und in der Höhle Font-de-Gaume in Frankreich auf. Dort wurden das Ur und Wildpferd vor über 12.000 vor Chr. mit Holzkohle, Ocker, Eisenoxid und anderen Werkzeugen auf Felswände gemalt. Das Rind wurde in der 1. Dynastie von den alten Ägyptern in Form der Göttin Hathor verehrt sowie in zahlreichen Wandzeichnungen und Reliefs dargestellt, von den Griechen in Stein gehauen und von den Römern auf Münzen geprägt oder in Mosaikböden verewigt. Im Jahr 1510 findet sich das Rind in der Darstellung »Das Milchmädchen« des niederländischen Renaissancemalers Lucas von Leyden (1494–1533). In seiner Darstellung nimmt eine Kuh den größten Raum des Bildes ein, was in der europäischen Kunst vor 1500 kaum denkbar gewesen wäre. Erstmals in der Renaissance entstand ein Interesse an der Darstellung der Natur und so ließen sich auch weltliche Themen als Druckgrafiken günstig produzieren und auf Märkten an den kleinen Mann bringen. Neben von Leydens Kuh gibt es eine vollformatige Studie um 1630 von Peter Paul Rubens (1577–1640), welche einen Ochsen zeigt und 20 Jahre später malte Rembrandt Harmenszoon van Rijn (1606–1669) ein Rind hängend aufgeschlitzt im Schlachthaus. Erst im 18. Jahrhundert mit dem Einzug der Romantik, des Realismus und des Naturalismus wird das Rind erneut zu einem Thema in der Malerei. Meist wird das Rindvieh in idealisierten Landschaften oder in bäuerlichen Szenen dargestellt, als Staffage in der Landschaft unterstreicht es das pastorale Genre »zurück zur Natur«. Bei dem englischen Maler Thomas Gainsborough (1727–1788) werden Rinder in lieblich gemalten Landschaften etwas steif und süßlich, idyllisch komponiert, und später bei dem deutschen Maler Heinrich von Zügel (1850–1941) zeichnen sich die Bilder durch opulente Darstellungen von heimischen Tieren aus. Erst Ende des 19. Jahrhunderts erlangt das Rind eine eigenständige und gleichwertige Position, wie zum Beispiel in den Arbeiten von Gustave Courbet (1819–1877), Camille Pissarro (1830–1903) oder bei dem norwegischen Tier- und Landschaftsmaler Anders Monsen Askevold (1834–1900), der Rinder weder im langweiligen Ruhezustand noch in dramatischer Bewegung zeigt, sondern bei der Überfahrt über den Fjord im Zuge des Almauf- oder Abtriebs; außerdem bei Anton Braith (1836–1905) vom Münchner Kunstverein oder den Impressionisten Lovis Corinth (1858–1925), dem Expressionisten Erich Heckel (1883–1970) sowie Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) oder Franz Marc (1880–1916). Im 20. Jahrhundert gehören die Darstellungen von Pablo Picasso (1881–1973) zu den bekanntesten.
In der Fotografie wurden erste Bilder von besonders ansehnlichen Stieren um 1850 von dem französischen Fotografen Louis-Auguste Bisson (1814–1876) im Format 8×10 cm gefertigt. Die Fotografie brachte die traditionellen Künstler um ihr Privileg der Bildschöpfung, aber für eine Anerkennung in der Museumswelt sollten noch über 100 Jahre vergehen. Auf der documenta 6 in Kassel wurden 1977 Fotoarbeiten von Bisson und seinem Bruder in der Abteilung Fotografie präsentiert. Weltweit bekannt wurden Rinder in der Fotografie 1887 durch den Fotoband »Animals in Motion« des englischen Fotografen Eadweard Muybridge (1830–1904). Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer weiteren Anerkennung durch den Pop Art Künstler Andy Warhol (1928–1987) mit seinem rosafarbigen Rinderkopf auf gelbem Hintergrund von 1966, den er als Fototapete in einer Ausstellung präsentierte. Gerhard Richter (*1932) malte 1964 und 1965 eine Kuh in unterschiedlichen Graustufen auf Leinwand und der englische Künstler Damien Hirst (*1965) zerteilte Rinder und Kälber in zwei Hälften und präsentierte sie 1993 in einen mit Formaldehyd-Lösung gefüllten Glasschaukasten.
Hildegard knüpft an diese Tradition der Künstler mit ihren persönlichen Ansichten und Portraits von Jungbullen in der Normandie an. Die Tiere werden nicht heroisch oder repräsentativ dargestellt, sie strahlen eine gewisse Vertrautheit aus und blicken mit großen Augen interessiert in die Kamera. Mal im Doppelportrait oder einzeln blicken die großen Köpfe mit den noch kleinen Hörnern den Betrachter an und regen ihn zum Nachdenken über die Symbiose zwischen ihm und dem domestizierten Tier an. Sie alle tragen eine Kunststoffmarke mit einer Nummer im Ohr und werden dadurch individuell gekennzeichnet – bis an das Ende der Nahrungskette gibt die Marke Auskunft über die Herkunft und den Stammbaum. Daneben wurden den Jungbullen wie schon seit Jahrhunderten große Ringe durch die Nase gezogen, um sie gefügiger zu machen. Nur ein dünner Stacheldraht auf Hildegards Bildern trennt den Betrachter vom Tier.
Durch Hildegards traditionelle Schwarz-Weiß-Barytabzüge wirken die Bilder impressionistisch, fast schon historisch und dokumentarisch zugleich. Die Normandie-Serie gehört zu ihrer letzten Arbeiten, bevor sie sich von der Fotografie langsam zurückzog. Die jungen Bullen erinnern an Bilder von Gustave Courbet (1819–1877) und Vincent van Gogh (1853–1890) oder Anton Braith (1836–1905) zum gleichen Thema. Hildegard beschäftigte sich bereits Anfang der 80er Jahren in ihrer Zoo-Serie »Gastland Bundesrepublik Deutschland« mit der Beziehung zwischen Tier und Mensch und mit dem entfremdeten Stadtmenschen, dem der Bezug zum Tier und zur Landwirtschaft verloren ging. Viele Stadtmenschen kennen das Rind nur noch als Hamburger, aus der Fleischdose oder dem Steakhaus an der Ecke, als Lederjacke, Stiefel, Seife, Polstergarnitur oder Autositz. Die Konsumenten wissen kaum noch, wie das Tier aussieht oder wo es herstammt. Die Produkte aus der Rinderhaltung wie Milch, Käse, Joghurt oder Quark riechen nicht mehr nach Natur oder Tier. Die Erzeugnisse werden meist in Kunststoffbehälter und mit Hilfe, von moderner Technik unter sterilen Bedingungen für eine halbe Ewigkeit haltbar gemacht, selten findet sich noch ein Bezug zum Tier auf der Verpackung. Diese seit Jahrtausenden bestehende Symbiose scheint verloren gegangen zu sein. Dies führte soweit, dass ein Wisent, eine genetisch verwandte Art des Auerochsen, im Sommer 2017 in der Nähe von Frankfurt/Oder erschossen wurde, obwohl das Tier unter Artenschutz steht. Aber die lokale Bevölkerung musste vor dem harmlosen Tier geschützt werden.